(Re-)Integration von krebserkrankten Kindern und Jugendlichen in den Sportunterricht
Erstellt in Zusammenarbeit u.a. mit Birte Eichhorn (Sportwissenschaftlerin Kinderonkologisches Zentrum Bremen) und dem Elternverein Leukämie- und Tumorkranker Kinder Bremen e. V.
Sehr geehrte Lehrkräfte,
es ist von entscheidender Bedeutung, dass Lehrkräfte sich über krebserkrankte Kinder und Jugendliche informieren können, da sie eine wichtige Rolle im Leben dieser spielen. Durch ein besseres Verständnis der Krankheit und ihrer Auswirkungen können Lehrkräfte eine unterstützende und einfühlsame Lernumgebung schaffen. Dies hilft nicht nur den Betroffenen, ihren Bildungsweg fortzusetzen, sondern fördert auch das Bewusstsein und die Empathie bei allen SchülerInnen. So tragen Sie wesentlich dazu bei, dass an Krebs erkrankte Kinder und Jugendliche trotz ihrer Herausforderungen ein Gefühl der Normalität und Zugehörigkeit erleben.
Herzlichen Dank an den NAOK-Standort München, der die folgenden Videos erstellt hat und zur Verfügung stellt.
Video 1: „Sport in der Klinik am NAOK-Standort München“
(Dauer 3:08 min)
Video 2: „Schulsport nach der Klinik“ (Dauer 2:10 min)
Im Rahmen der Wiedereingliederung des betroffenen Kindes in den Schulsport könnten Ihnen möglicherweise bestimmte Fachbegriffe begegnen. Zur Förderung eines besseren Verständnisses haben wir im Folgenden eine Erläuterung dieser Begriffe zusammengestellt.
Relevante Begrifflichkeiten
Fatigue
Das Fatigue-Syndrom ist eine anhaltende, übermäßige Erschöpfung, die nicht durch Ruhe oder Schlaf behoben werden kann und die tägliche Leistungsfähigkeit stark einschränkt. Betroffene Personen benötigen eine individuelle Anpassung ihrer Aktivitäten, um Überforderung zu vermeiden, wobei sanfte Bewegungsformen und regelmäßige Pausen hilfreich sind. Es ist wichtig, auf Anzeichen von Fatigue zu achten und einfühlsam auf die Bedürfnisse der Betroffenen einzugehen, um ihre Teilnahme an Aktivitäten zu ermöglichen, ohne ihre Gesundheit zu gefährden.
Es konnte bereits herausgefunden werden, dass Bewegung bei dem Vorliegen von Fatigue deutlich wirksamer ist als eine Medikamenteneinnahme (Mundt, 2019).
Endoprothese
Unter einer Endoprothese versteht man Implantate, welche natürliche Körperstrukturen, wie zum Beispiel Gelenke, ersetzen. Diese verbleiben in der Regel dauerhaft im Körper.
Bei Knochenkrebs muss häufig eine Endoprothese eingesetzt werden, um eine möglichst große Bewegungsfähigkeit wiederzuerlangen. Eine hundertprozentige Belastungsfähigkeit ist jedoch nicht möglich. Daher kann es zu Einschränkungen zum Beispiel hinsichtlich der Sprintfähigkeit und dem Joggen kommen.
Sportlehrkräfte sollten die individuellen Bedürfnisse von Schülerinnen und Schülern mit einer Endoprothese berücksichtigen und sportliche Aktivitäten so anpassen, dass das künstliche Gelenk nicht überlastet wird. Belastungen mit hohen Stoßwirkungen oder intensiven Bewegungen sollten vermieden werden. Eine enge Zusammenarbeit mit Ärzten*Ärztinnen oder dem NAOK und eine schrittweise Steigerung der Belastung helfen, das Risiko von Verletzungen oder Komplikationen zu minimieren.
Rezidiv
Man spricht von einem Rezidiv, wenn es nach einer erfolgreichen Krebsbehandlung zu einem Wiederauftreten von Krebs kommt.
Ein Rezidiv kann für betroffene Kinder und Jugendliche eine erhebliche emotionale Belastung darstellen, die mit Ängsten, Frustration und gesundheitlichen Einschränkungen verbunden ist. Oft führen körperliche Erschöpfung und die Notwendigkeit weiterer Behandlungen zu einer verminderten Belastbarkeit, was den Alltag und insbesondere die Teilnahme an schulischen Aktivitäten erschwert. Eine einfühlsame Unterstützung, Flexibilität bei der Organisation des Lernprozesses und Verständnis für die individuellen Bedürfnisse sind daher entscheidend, um betroffene Schüler*innen zu begleiten.
Stammzelltransplantation
Bei einer Stammzelltransplantation (SZT) werden Spender-Blutstammzellen durch eine Infusion in die Vene in den Körper transportiert und finden ihren Weg von dort eigenständig zum Knochenmark. Dort sollen die transplantierten Stammzellen anwachsen, dass die Blutbildung neuer, gesunder Zellen beginnt. Als Vorbereitung für die Transplantation wird das Immunsystem unterdrückt. Daher ist besonders nach eine SZT die Infektanfälligkeit hoch und der Körper geschwächt.
Die Auswirkungen einer Stammzelltransplantation auf den Alltag sind vielfältig und können sowohl physische als auch psychische Herausforderungen mit sich bringen. Die betroffene Person benötigt oft eine lange Zeit, um sich vollständig zu erholen, und der Alltag muss teilweise angepasst werden, insbesondere in Bezug auf Infektionsvorsorge, körperliche Belastbarkeit und regelmäßige medizinische Nachsorge.
Erhaltungstherapie/ Dauertherapie
In einigen Fällen reicht eine intensive Therapie nicht aus, sodass Kinder und Jugendliche über einen längeren Zeitraum (etwa 1,5 Jahre) eine Chemotherapie in Tablettenform zu Hause einnehmen müssen. Sobald die Erhaltungstherapie optimal angepasst und der Katheter entfernt wurde, können die Betroffenen ihren Alltag weitgehend normal fortsetzen. In der Regel sind nur wenige Nebenwirkungen zu erwarten, allerdings sind regelmäßige Ambulanzbesuche zur Überwachung des Blutbildes erforderlich. Auch eine schnellere Erschöpfung ist typisch und kann während der Erhaltungstherapie auftreten.
Für Kinder mit Hirntumoren gestaltet sich die Erhaltungstherapie jedoch anders. Hier ist mit schwereren Nebenwirkungen zu rechnen. Obwohl die Kinder während der Therapie weiterhin die Schule besuchen können, sind sie häufiger anfällig für Infektionen und weisen oftmals ein schlechtes Blutbild auf, was zu zusätzlichen Nebenwirkungen und gegebenenfalls längeren Krankenhausaufenthalten führen kann.
Protonentherapie
Die Protonentherapie ist eine Form der Strahlentherapie, die verwendet wird, wenn der Tumor tief im Körper sitzt oder von empfindlichen Organen umgeben ist. Je nach Bestrahlungsplan kann zwischen den Bestrahlungen die Schule besucht werden.
Hierbei ist die Kommunikation zwischen Familie und Schule bedeutend.
Portkatheter
Ein Portkatheter wir als Zugang für medizinische Behandlungen wie Chemotherapien oder Blutentnahmen dient und unter die Haut implantiert. Der Katheter muss vor mechanischer Belastung geschützt werden, weshalb Sportarten mit direktem Kontakt oder Stößen vermieden werden sollten. Schülerinnen und Schüler mit einem Portkatheter können in ihrer körperlichen Belastbarkeit eingeschränkt sein, daher sollten die Aktivitäten entsprechend angepasst werden. Außerdem ist es wichtig, auf die Hygiene des Katheterbereichs zu achten, um das Risiko von Infektionen zu verringern.
Schwimmsport sollte bspw. in dieser zeit gemieden werden.
Shunt
Ein Shunt im Kopf ist ein medizinisches Gerät, das bspw. zur Gabe von Medikamneten eingesetzt wird, um überschüssige Flüssigkeit aus dem Gehirn abzuleiten. Der Shunt besteht aus einem Katheter. Kinder und Jugendliche mit einem Shunt sollten darauf achten, Aktivitäten zu vermeiden, die zu starken Kopfbelastungen oder Stößen führen, um das Risiko von Komplikationen wie Infektionen oder Fehlfunktionen des Shunts zu verringern. Es ist wichtig, Anzeichen von Unwohlsein oder gesundheitlichen Veränderungen ernst zu nehmen.
Positivatest
Ein Positivattest umgeht die vorschnelle Entscheidung für eine Sportbefreiung. Sie wird über das ärztliche Personal ausgestellt und beinhaltet eine konkrete Problembeschreibung aus biologisch-medizinischer Perspektive. Dabei füllt die zuständige Person eine Checkliste aus, die bspw. die Einschätzung der allgemeinen Sporttauglichkeit, Hinweise zur körperlichen Leistungsfähigkeit und besondere gesundheitliche Gefährdungen im Zusammenhang mit der Erkrankung beinhaltet. (Marckhoff, 2021)
FAQ
Worauf muss ich genau achten?
Während der Therapie hat der Schüler oder die Schülerin eine erhebliche Zeitspanne mit inaktiven Liegephasen verbracht. Dabei wird das Vertrauen in den eigenen Körper erschüttert und oftmals findet ein Vergleich mit dem früheren „leistungsfähigen“ Sport-Ich statt.
Bitte sprechen Sie mit dem Kind und seinen Eltern, um in Erfahrung zu bringen, was zu welchem Zeitpunkt relevant ist zu beachten und welche Handlungsweise dann hilfreich ist.
Dabei ist es wichtig, stets die Belastungsmerkmale (bspw. Schwindel, sehr hoher Puls, Kopfschmerzen) im Blick zu behalten und ggf. zu reduzieren. Auch eine Fatigue-Problematik könnte vorliegen und sollte nicht unterschätzt werden. Insgesamt ist es von großer Bedeutung die Bedürfnisse des Kindes zu erfragen, berücksichtigen und Verständnis für die jeweilige Situation aufzubringen.
Was ist meine Rolle im (Re-)Integrationsprozess?
Die Sportlehrkraft spielt eine entscheidende Rolle im (Re-)Integrationsprozess von krebserkrankten Kindern und Jugendlichen. Wir verstehen, dass Lehrkräfte mit vielen Aufgaben und Herausforderungen konfrontiert sind. Dennoch ist es wichtig, dass Bewegung und Sport nicht vernachlässigt werden, obwohl die Therapie oft sehr anspruchsvoll und belastend ist. Aus Angst oder übermäßiger Vorsicht Kinder vom Sportunterricht fernzuhalten, kann negative Auswirkungen haben. Im Gegensatz dazu fördert körperliche Aktivität die Rehabilitation nach einer Krebserkrankung und stärkt das Selbstwertgefühl der Kinder. Ohne triftige Gründe sollte daher keine Befreiung vom Sportunterricht erfolgen. Die Aufgabe der Sportlehrkraft sollte eine unterstützende Begleitung sein, wobei die Förderung individuell angepasst gestaltet werden muss.
Kann ich meine Beurteilung im Unterricht anpassen?
Bei einer Einschränkung hinsichtlich physischer, psychischer oder konditioneller Parameter ist es sehr sinnvoll die Beurteilung anzupassen. Dabei ist von Bedeutung, dass jedes Kind individuell zu betrachten ist und keine pauschale Anpassung stattfinden sollte.
Die Familie muss eine Bescheinigung der Klinik vorlegen, in der eine Notenangleichung und eine Nichtbenotung empfohlen werden. (Ggf. Dokument verlinken.)
Wie kann ich die Anpassung vornehmen?
Ein Nachteilsausgleich oder eine Notenbefreiung stellt, wie auch bei anderen chronischen Erkrankungen, eine gute Möglichkeit dar. Dabei sollte die Beurteilung der Leistung individuell erfolgen. Eine offene Kommunikation zwischen dem Schüler/der Schülerin und der Lehrkraft bildet dabei die Basis. Auch eine darüber hinaus stattfindende Absprache mit den Eltern und/oder dem ärztlichen Personal kann von Vorteil sein. Die Option von selbstbestimmten Pausen kann dem Kind Sicherheit geben.
Ist Sport nicht zugefährlich bei einer Krebserkankung?
Es besteht kein negativer Zusammenhang von Sport und Krebs. Ganz im Gegenteil wird es in jeder Therapiephase empfohlen. Außerdem ist der soziale Aspekt beim Sport von Bedeutung. Die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit ist durch Spiel, Sport und Bewegung positiv geprägt. Es gibt die Möglichkeit Vorbilder zu finden, Konflikte zu lösen, Ängste zu besiegen und/oder Stärken zu entdecken. Gerade der Schulsport ist wichtig für Kinder und Jugendliche, welche nicht in einem Verein tätig sind. Häufige Ursache bei an Krebs erkrankten Kindern oder Jugendlichen ist die Angst, nicht gut genug zu sein und mithalten zu können. Daher kann der Schulsport der einzige Zugang für die positiven Zusammenhänge von Bewegung und Sport sein.
Um möglichst gut vorbereitet zu sein, kann ein von dem ärztlichen Personal ausgestelltes Positivattest hilfreich sein.
Weiterführende Literatur
Oberwetter, K., et al., Sportunterricht mit Schüler*innen nach einer Krebserkrankung. Sichtweisen und Erfahrungen von Sportlehrer*innen, 2024. 40(05): p. 194-199.
Beerbom, C., Schönberg, C., & Kubandt, M. (2010). Unterrichtsentwicklung: Schülerinnen und Schüler mit chronischen Erkrankungen. Ludwigsfelde-Struveshof: Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM).
Durlach, F-J., Kauth T., Lang H., & Steinki, J. (2007). Das chronisch kranke Kind im Sport in Schule und Verein. (Niedersächsisches Kultusministerium, Hrsg.). Stuttgart: Bräuer GmbH.
Lawrenz, W. (2020). Chronisch kranke Kinder und Jugendliche im Schulsport. Gesellschaft für Pädiatrische Sportmedizin.
Marckhoff, M. (2021). Das „Positivattest“-die Lizenz zum Sporttreiben.Bauchredner. 100-105.
Mundt, M.(2019). Krebs und körperliche Aktivität: Durch Bewegungstherapie die Kontrolle zurückgewinnen. best practice onkologie, 4, 136-140.
Rank, M.,Freiberger, V., Halle, M., & Tiska, O. (2012). Sporttherapie bei Krebserkrankungen: Grundlagen – Diagnostik – Praxis; mit 19 Tabellen. Stuttgart: Schattauer.
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