Resilienz und Psychohygiene in der Kinderonkologie
Wir möchten uns herzlich bei Dr. Regine Söntgerath vom NAOK-Standort Leipzig für die bereitgestellten Inhalte bedanken. Diese Inhalte wurden im Rahmen des NAOK-Workshops für Sport- und Bewegungstherapeut*innen in Leipzig im September 2022 erstellt.
Was ist Resilienz?
Generell bezeichnet Resilienz die Fähigkeit, erfolgreich mit belastenden Umständen wie zum Beispiel traumatischen Erfahrungen, Unglück, Misserfolg oder anderen Risikobedingungen umzugehen sowie negative Folgen von Stress abzuschwächen. Resilienzkompetenz stellt eine grundlegende Bewältigungskompetenz dar. Das Konzept ist eng mit dem Modell der Salutogenese (A. Antonovsky) verbunden. Resilienz ist nicht als universelle Fähigkeit zu verstehen, sondern als lebensbereichsspezifische Kompetenz, die variabel, situationsspezifisch, dynamisch und erlernbar ist.
Psychologische Resilienz nach Sisto et al. 2019 ist:
- Die Fähigkeit, sich an existentielle Lebensbedingungen positiv anzupassen und dabei die eigene
Orientierung mit guter Selbstwahrnehmung und Kohärenzgefühl aufrechtzuerhalten. - Ein dynamischer Prozess, der sich im Zeitverlauf entwickelt und eine Form des adaptiven
Funktionierens beinhaltet, der uns erlaubt, mit Herausforderungen umzugehen. - Die Offenheit für Veränderung und eine Gelegenheit zum (posttraumatischen) Wachstum.
Was ist Salutogenese?
Das Salutogenese-Konzept (1979) des Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923-1994) untersucht, welche Bedingungen dazu beitragen, dass Menschen trotz Belastung gesund bleiben.
Maßgeblich ist dabei das Verständnis von Gesundheit und Krankheit als Ausprägungen eines Kontinuums, beeinflusst durch das Gleichgewicht zwischen Stressoren und Widerstandsquellen.
Das zentrale Kernstück des Modells ist das Konstrukt des Kohärenzgefühls. Es beschreibt die globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchgehendes, überdauerndes und dennoch dynamisches Gefühl der Zuversicht hat, dass
- die Ereignisse der inneren und äußeren Umwelt im Laufe des Lebens strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind
(Gefühl der Verstehbarkeit). - die Ressourcen verfügbar sind, um den durch diese Ereignisse gestellten Anforderungengerecht zu werden
(Gefühl der Handhabbarkeit). - diese Anforderungen als Herausforderungen zu verstehen sind, die es wert sind, sich dafür einzusetzen und zu engagieren
(Gefühl der Sinnhaftigkeit).
Warum ist Resilienz wichtig in helfenden (Gesundheits-) Berufen?
Erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen in helfenden Berufen durch das Miterleben von belastenden Situationen, Krankheit, Trauma, Tod führt zu hohen emotionale Anforderungen.
Psychische Gesundheit und Wohlbefinden benötigen besondere Aufmerksamkeit, da das Thema häufig in
der Ausbildung nicht thematisiert oder gelehrt wird.
Selbstfürsorge und Maßnahmen zur Erhaltung von Gesundheit und Wohlbefinden (Psychohygiene).
können die eigene Resilienz stärken und wirken präventiv.
Zum eigenen Schutz: Strategien und Gewohnheiten entwickeln, die auf psychische Belastung
vorbereiten und helfen mit ihr umzugehen.
Voraussetzung sind die Beobachtung psychischer und körperlicher Belastungsfaktoren sowie der individuellen Reaktionen darauf und eine ausgeprägte Fähigkeit zur Eigenwahrnehmung.
Weitere Präventionsmöglichkeiten (Auswahl)
Austausch mit Kollegen*innen (Supervision, Intervision/kollegiale Beratung).
Achtsamkeit (beobachten und erkennen eigener Reaktionen, Gedanken, Gefühle).
Entspannungsverfahren.
Selbstaufmerksamkeit für körperliche und seelische Signale wie z.B. Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Gereiztheit, vegetative Übererregbarkeit etc..
Stärkung von Selbstwert und Selbstvertrauen.
Verändern dysfunktionaler Überzeugungen.
Selbstwirksamkeit – Vertrauen in die eigenen Stärken entwickeln.
Förderung sozialer Kompetenzen (z.B. eigene Grenzen wahren, Bedürfnisse kommunizieren, um Gefallen oder Hilfe bitten, für Entlastung sorgen).
Lösungs- und ressourcenorientiertes Arbeiten.
Ressourcen aktivieren.
Was ist mit Psychohygiene gemeint?
Psychohygiene umfasst alle Maßnahmen, die dem Schutz und dem Erhalt der psychischen Gesundheit dienen, wie z.B. Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen, die dabei unterstützen mit alltäglichen oder besonderen Belastungen umzugehen. Die unterschiedlichen Maßnahmen und Verhaltensweisen können individuell sehr verschieden sein und sollten für jede*n je nach Situation variabel anzuwenden und stimmig sein. Nachfolgend kannst du eine Sammlung deiner Ressourcen im Arbeitskontext anlegen, dabei
können sowohl solche, die du bereits nutzt, als auch solche, die du gerne nutzen möchtest notiert werden.
Intervision/ kollegiale Beratung
Intervision oder kollegiale Beratung ist das Zusammentreffen einer Gruppe oder eines Teams zur Besprechung einer Situation aus dem Berufsfeld. Die Teilnehmer*innen reflektieren ihr berufliches Handeln, unterstützen sich gegenseitig bei der Problemlösung und erweitern so ihr Fachwissen und ihre Handlungskompetenz. Die Lösungsfindung erfolgt in einem autonomen, an Erfahrung orientierten Lernprozess. Eine wichtige und wertvolle Ressource der Intervision ist die Multiperspektivität, die von der Beratergruppe an den*die Ratsuchende*n herangetragen wird. Durch eine höhere Anzahl an Teilnehmenden erhöht sich das Lösungspotenzial.
Intervision beruht auf Gleichrangigkeit, Freiwilligkeit und Eigenverantwortlichkeit, also eine professionelle und lösungsorientierte Selbsthilfeberatung, bei der sich Mitglieder der Gruppe gegenseitig beraten. Der Ausgangspunkt jeder Intervision ist ein Problem bzw. eine konkrete Frage. Es liegt in der Verantwortung des Fallgebers, die Handlungsoptionen umzusetzen bzw. die Lösungsansätze in der Praxis zu erproben.
Vorteile
- Mitarbeiter*innen können von Kolleg*innen lernen
- Geringe Kosten
- Sofern die Intervisionsgruppe in einer Organisation etabliert wird, kann sie sich zu einer Vertrauensgemeinschaft entwickeln, in welche die Mitarbeiter*innen ihre Probleme ohne Scheu einbringen
Nachteile
- Teilnehmerzahl
- Organisationsaufwand/ Terminfindung
- Für die Lösung von Problemen, die tiefer gründen, reichen Wissen und Zeit einer Interventionsgruppe u.U. nicht aus.
- Ein tiefer gründendes Problem liegt beispielsweise vor, wenn der*die Fallgeber*in wenig offen für Neues ist und sich nicht auf neue Sichtweisen einlassen kann oder wenn ein Konflikt zu weit fortgeschritten ist
Möglicher Nutzen
- Steigerung der beruflichen Kompetenz
- Erweitern von Handlungsalternativen und Hinterfragen des bisherigen Handelns
- Qualitätssicherung der eigenen Arbeit
- Differenziertes Bewusstsein der eigenen Rolle
- Perspektivwechsel/Erkennen von Mustern
- Entlastung von beruflichem Druck durch Peer-Austausch/Psychohygiene
- Steigerung der eigenen Beratungskompetenz
- Kritische Auseinandersetzung mit der persönlichen „Rahmentheorie“ des beruflichen Handelns
Wichtige Merkmale von Intervision
- Zielgerichtet, lösungsorientiert, selbstgesteuert, gemeinsamer beruflicher Fokus der Gruppe, Gleichrangigkeit der Teilnehmenden
- Grundstruktur: (1) Fallschilderung, (2) kollegiale Beratung mit Entwicklung von Lösungsansätzen, Handlungsalternativen,
(3) nächste Schritte, (4) Auswerten und Abschluss - Ideale Gruppengröße: 5-8 Personen
- Dauer: 30-120 Minuten, je nach Konzeption
Ablauf der Intervision
- Fallgeber*in macht kurze Fallvorstellung mit den relevanten Informationen und einer konkreten
Frage - Verständnisfragen zum Fall aus der Gruppe + dazugehörige Antworten
- Gespräch in der Gruppe über den vorgestellten Fall und eigene Ideen, Empfindungen, etc. dazu
Fallgeber*in nimmt nicht am Gespräch teil, sondern hört nur zu und wird auch nicht direkt angesprochen (keine Ratschläge) - Abschließende Frage an Fallgeber*in: Was nimmst du aus der Runde mit bzw. hat dich angesprochen
Rollen in der Intervision
Fallgeber*in: bringt Beratungsanliegen in die Intervisionsgruppe ein, stellt den Fall möglichst anschaulich unter Einbezug von Inhalts-, Sach- und Gefühlsebene dar.
Berater*innen: stellen den Kern der Intervisionsgruppe dar, teilen Fallgeber*in ihre Wahrnehmungen mit, lassen sich auf dessen Perspektive ein und akzeptieren das gestellte Problem mit Respekt und Interesse, reflektieren den Fall vor ihrem eigenen professionellen Hintergrund und tauschen sich dazu aus.
Moderator*in: begleitet den systematischen Ablauf, trennt ggf. die Rollen, moderiert Übergänge und hat die Rolle des Zeitwächters, damit die verschiedenen Prozessphasen inhaltlich und zeitlich angemessen strukturiert sind.
ggf. Beobachter*in: nicht zwingend erforderlich, kann den Prozess durch Feedback maßgeblich bereichern, schreibt während der Beratung mit und äußert sich erst am Ende des Prozesses.
Wichtige Grundregeln zur Kommunikation
- Wertschätzende, nicht wertende Grundeinstellung der Mitglieder zueinander
- Aktives, aufmerksames und akzeptierendes Zuhören der Teilnehmer*innen
- Vermeiden von Verallgemeinerungen, Bewertungen, Interpretationen, Belehrungen und Ratschlägen
- Wahrnehmungsprüfung durch Nachfragen beim Gegenüber, ob der eigene Eindruck richtig ist
- Klare und konkrete Aussagen treffen, z.B. ich statt man verwenden
- Eigene innere Signale beachten, Gefühle und Wünsche selektiv authentisch kommunizieren: Ich sage nicht alles, aber das, was ich mitteile ist echt, bewusst ausgewählt und verbindlich
Einfache Anwendungsmöglichkeit: Gestaltung der Intervision als Reflecting Team
- Fallschilderung: Fallgeber*in stellt einen Fall in Anwesenheit einer Gruppe vor (ca. 5 min)
- Klärung von Fragen: Gruppe stellt Nachfragen zum Fall (5-10 min)
- Zielsetzung: Fallgeber*in formuliert 1-2 konkrete Fragen/Anliegen (3 min)
- Fallgeber*in begibt sich in Beobachterposition und hört der Gruppe zu ohne zu kommentieren
- Kollegiale Beratung mit Entwicklung von Lösungsansätzen: Gruppe begibt sich in den reflektierenden Austausch zum vorgestellten Fall und generiert Hypothesen, Lösungen, Handlungsalternativen, äußert Gedanken, ohne die*den Fallgeber*in direkt anzusprechen (10-20min)
- Fallgeber*in bekommt so Lösungsmöglichkeiten angeboten, die angenommen oder
zurückgewiesen werden können, je nachdem wie hilfreich sie empfunden werden
- Fallgeber*in bekommt so Lösungsmöglichkeiten angeboten, die angenommen oder
- Nächste Schritte planen und auswerten
- Fallgeber*in gibt ein kurzes Feedback zum Gehörten und weiteren Handlungsschritten oder -absichten, die sich aus der Intervision ergeben haben (3-5 min)
Quellenangaben und Weiterführende Literatur
Degenkolb-Weyers, S. (2016). Resilienz in therapeutischen Gesundheitsfachberufen, Wiesbaden: Springer Fachmedien
Diegelmann, C., Isermann, M., Zimmermann, T. (2020) Therapie-Tools Psychoonkologie, Weinheim: Beltz
Dorsch. (2021) Lexikon der Psychologie. Verlag: Hogrefe;
Herbach, A. (2019) Systemische Intervision für den Alltagsgebrauch. Wiesbaden: Springer Fachmedien
Huber, G. (2012) Sozialwissenschaftliche Aspekte. In Schüle & Huber (Hrsg.) Grundlagen der Sport- und Bewegungstherapie. S 134-139. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag
Lippmann, E. (2013) Intervision. Kollegiales Coaching professionell gestalten. 3. Überarb. Auflage, Berlin: Springer-Verlag
Sendera, A. & Sendera, M. (2013) Trauma und Burnout in helfenden Berufen, Wien: Springer-Verlag
Sisto A., Vicinanza F., Campanozzi L. L., Ricci G., Tartaglini D., Tambone V. (2019). Towards a transversal definition of psychological resilience: a literature review. Medicina 55:745.
Wustmann, C. (2004). Resilienz. Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Weinheim: Beltz
Wellensiek, S. K. (2017) Handbuch Resilienztraining. 2., aktualisierte Auflage, Weinheim: Belt
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